1921: Mercedes 28/95 PS Sport feierte Rennerfolg mit Vierradbremse (2024)

Was für eine Strapaze ist dieses Rennen vor 100Jahren. Knapp siebeneinhalb Stunden unter der stechenden Sonne Siziliens benötigt Rennfahrer Max Sailer am 29.Mai 1921 bis ins Ziel der Targa Florio. Das Ergebnis: Platz2 im Gesamtklassem*nt, Klassensieg der Tourenwagen über 5Liter Hubraum und die schnellste Rundenzeit.

432Kilometer weit liefert sich Sailer im Mercedes 28/95PS Sport ein packendes Rennen mit einer starken Konkurrenz vor allem italienischer Fahrer. Vier Runden des 108Kilometer langen Kurses im Norden der italienischen Insel werden über unasphaltierte Gebirgsstraßen mit rund 1.500Kurven und 800Metern Höhenunterschied gefahren.

Sailer kann sich unter diesen Extrembedingungen auf eine neue Technik verlassen: Der Mercedes 28/95PS Sport ist das erste mit Vierradbremse ausgerüstete Fahrzeug der Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG). Das verschafft ein deutliches Plus an Bremsvermögen und damit an Präzision und Fahrsicherheit. Zum Einsatz kommen Trommelbremsen. Diese sind hinter den Drahtspeichen gut sichtbar.

Der Sieg ist zum Greifen nah

Staub und Hitze begleiten das Rennen genauso wie die Gefahr von Reifenpannen durch die zahlreichen Hufnägel, die auf der Fahrbahn liegen. Und dieses Risiko kostet Sailer auch den Gesamtsieg in der zwölften Ausgabe des legendären, vom italienischen Industriellen Vincenzo Florio ausgerichteten Straßenrennens: „Sailer musste neunmal Gummi wechseln, während der mit nur zwei Minuten vor ihm angekommene absolute Sieger der Targa auf einem Spezial-Fiat-Rennwagen nicht einen einzigen Reifendefekt hatte“, resümiert die Daimler-Motoren-Gesellschaft am 6.Juni 1921 in einer Verkaufsmitteilung an das Händlernetz. Dass der Stuttgarter Rennfahrer die Targa Florio trotz dieser neun Reifenpannen in 7Stunden, 27Minuten und 16,2Sekunden mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 57,9km/h zurücklegt, ist ein Meisterstück. Wohlverdient ist denn auch seine Auszeichnung mit einem von Vincenzo Florio gestifteten und vom Sizilianischen Automobil-Club verliehenen Pokal für den „Ersten in der Serienklasse“, wie es in einem direkt nach dem Rennen an den Stammsitz der DMG gesandten Telegramm heißt. Nicht zu verwechseln ist diese „Coppa“ des Herrn Florio mit dem ebenfalls von ihm gestifteten Rennen um die „Coppa Florio“. Dieses wird 1921 im Rahmen des Grand Prix in Brescia im September ausgetragen.

Der Erfolg des mit der Vierradbremse ausgerüsteten Mercedes 28/95PS Sport ist ein Beispiel dafür, wie der Rennsport einer neuen Technologie im Automobil den Weg bereitet: Ab Juni 1921 wird der 28/95PS Sport ins reguläre Verkaufsprogramm aufgenommen. Die Erfolge bei der Targa Florio und bei weiteren Rennen sind eine starke Werbung für das Modell. So schaltet der Wiener Automobilhändler Mercedes Auto-Palast unter der Überschrift „Sieben Starts– Sieben Siege!“ eine ganzseitige Anzeige in der österreichischen „Allgemeinen Automobil-Zeitung“ vom 6.November 1921 und verkündet: „Type 28/95PS Sechszylinder 1921 ist hier eingetroffen!“

Ab 1923 stattet die DMG auch die Serienausführung ihres damaligen sportlichen Topmodells 28/95PS mit dieser sogenannten „Allradbremse“ aus. Mit der Zeit setzt sich die Vierradbremse weltweit im Automobilbau als Standard durch. Der Unterschied zur bislang verbreiteten, nur auf die Hinterachse wirkenden Bremse ist frappierend: So stark verzögern die mit Vierradbremse ausgestatteten Automobile, dass Mitte der 1920er-Jahre in Deutschland sogar über ein entsprechendes Warnzeichen am Heck diskutiert wird, um andere Verkehrsteilnehmer rechtzeitig zu informieren. Darüber berichtet die „Allgemeine Automobil-Zeitung“ am 12.September 1925 unter der Überschrift „Achtung Vierradbremse!“.

Sizilianisches Abenteuer

Die Targa Florio 1921 gilt als jene Ausgabe des seit 1906 ausgerichteten Straßenrennens, bei der erstmals professionelle Werksmannschaften an den Start gehen. Die DMG schickt zwei Fahrzeuge des Typs 28/95PS Sport nach Sizilien: Max Sailer, ab 1934 übrigens technischer Direktor sowie stellvertretendes Vorstandsmitglied der damaligen Daimler-BenzAG, fährt den Wagen mit der Startnummer25, Carlo Ferrario steuert die Nummer24. Seine Leistungsfähigkeit hat das Fahrzeug bereits am 22.Mai 1921 bewiesen, als Otto Salzer beim Bergrennen Königsaal-Jilowischt bei Prag die beste Zeit aller Klassen erzielt und einen neuen Streckenrekord aufstellt. Doch der Start bei der Targa Florio ist noch einmal eine ganz andere Herausforderung. Das beginnt schon bei der Anreise: Max Sailer bringt seinen Rennwagen auf eigener Achse nach Sizilien– das sind mehr als 1.300Kilometer Luftlinie und rund 2.000Kilometer auf der Landstraße. Seinerzeit ist das im Motorsport allerdings durchaus üblich.

Bei der Targa Florio feiern Mercedes und später Mercedes-Benz auch in späteren Jahren Erfolge: 1922 siegt Graf Giulio Masetti auf einem weiterentwickelten Mercedes 115PS Grand-Prix-Rennwagen aus dem Jahr 1914, während Max Sailer die Klasse der Tourenwagen über 4,5Liter Hubraum mit einem Mercedes 28/95PS gewinnt– diesmal mit Kompressoraufladung versehen. Im Jahr 1924 triumphiert Christian Werner mit einem Mercedes 2-Liter-Rennwagen mit Kompressor, der als eine Art von Tarnanstrich rot lackiert wird– der typischen Farbe italienischer Wettbewerbsfahrzeuge. 1955 schließlich machen Stirling Moss und Peter Collins vor ihren Teamkollegen Juan Manuel Fangio und Karl Kling bei der Targa Florio die Sportwagen-Weltmeisterschaft dieses Jahres mit einem Doppelsieg der Mercedes-Benz 300SLR Rennsportwagen (W196S) perfekt.

Seriennahe Rennfahrzeuge

Der Mercedes 28/95PS Sport ist die Weiterentwicklung eines leistungsfähigen Luxusfahrzeugs, das die Tradition der Mercedes-Benz Kompressorwagen der S-Reihe vorwegnimmt: Paul Daimler konstruiert den Mercedes 28/95PS vor dem Ersten Weltkrieg und stellt ihn 1914 vor. Er wird von einem66kW(90PS) starken Reihensechszylindermotor mit 7.280Kubikzentimetern Hubraum, V-förmig hängenden Ventilen und oben liegender Nockenwelle angetrieben. Bis 1915 baut die DMG rund 25Fahrzeuge. Nach Kriegsende beginnt die Produktion erneut im Jahr 1920.

Für den Renneinsatz 1921 modifizieren die Ingenieure den Mercedes 28/95PS so gründlich, dass er nun als eigenes Modell mit dem Zusatz „Sport“ geführt wird. Unter anderem wächst die Motorleistung auf81kW(110PS), während sich der Radstand zugunsten einer verbesserten Wendigkeit um 325Millimeter auf 3.065Millimeter verringert. Der Kühler sitzt tiefer und weiter hinten, auch der Fahrersitz ist tiefer angeordnet. Schließlich erhält das Wettbewerbsfahrzeug erstmals bei der DMG die Vierradbremse. Vermutlich noch 1921 beginnt die Weiterentwicklung zum Mercedes 28/95PS Sport mit Kompressormotor, der 1922 bei der Targa Florio eingesetzt wird. Mit eingeschaltetem mechanischem Lader leistet der Rennwagen nun107kW(145PS) bei 2.000/min.

Der Mercedes 28/95PS Sport gehört zur langen Tradition seriennaher Wettbewerbsfahrzeuge in der Markengeschichte von Mercedes-Benz. Zu den herausragenden Beispielen zählen die Kompressor-Tourenwagen der Typen S, SS, SSK und SSKL in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Marke unter anderem mit dem 300SL Coupé (W198), mit Limousinen aus Oberklasse (W111 und W112) und oberer Mittelklasse (W123) sowie den SLC-Coupés (C107) auf der Rundstrecke und bei Rallyes erfolgreich.

Meilensteine der Bremstechnik von Mercedes-Benz

  • 1921: Vierradbremse erstmals im Mercedes 28/95PS Sport, der ab Juni 1921 auch im regulären Verkaufsprogramm angeboten wird
  • 1931: Hydraulische Bremsanlage erstmals im Mercedes-Benz 170 (W15)
  • 1961: Scheibenbremsen an den Vorderrädern erstmals im Mercedes-Benz 220SE Coupé (W111, Februar) und Mercedes-Benz 300SL Roadster (W198, März) mit Scheibenbremsen an Vorder- und Hinterrädern
  • 1963: Zweikreisbremsanlage erstmals serienmäßig im Mercedes-Benz 230SL „Pagode“ (W113, März), ab August 1963 Grundausstattung für alle Mercedes-Benz Personenwagen
  • 1970: Mercedes-Benz präsentiert das mit Teldix entwickelte Antiblockiersystem (ABS) der ersten Generation
  • 1978: Mercedes-Benz stellt das mit Bosch entwickelte ABS der zweiten Generation vor, die Serieneinführung dieser Weltneuheit erfolgt noch 1978 in der S-Klasse (Baureihe116)
  • 1980: Antiblockiersystem ABS für alle Personenwagentypen von Mercedes-Benz verfügbar
  • 1981: Antiblockiersystem ABS für Nutzfahrzeuge vorgestellt
  • 1995: neu entwickelter Mercedes-Benz Sprinter als erster Transporter mit serienmäßigen Scheibenbremsen an Vorder- und Hinterrädern sowie ABS
  • 1996: Bremsassistent BAS vorgestellt, zunächst als Serienausstattung in S-Klasse und SL
  • 1996: neue Schwerlastwagenbaureihe Mercedes-Benz Actros mit Telligent-Bremsanlage mit elektronischer Regelung und Scheibenbremsen rundum
  • 2000: Mercedes-Benz CL55AMG „F1“ (C215) als erstes Serienfahrzeug weltweit mit Keramikbremsen
  • 2005: Bremssystem ADAPTIVE BRAKE in der S-Klasse der Baureihe221
  • 2009: PRE-SAFE Bremse kann die Folgen eines unvermeidbaren Unfalls mit einer automatischen Vollbremsung mindern

Bilder: Daimler AG

1921: Mercedes 28/95 PS Sport feierte Rennerfolg mit Vierradbremse (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Jamar Nader

Last Updated:

Views: 6342

Rating: 4.4 / 5 (75 voted)

Reviews: 82% of readers found this page helpful

Author information

Name: Jamar Nader

Birthday: 1995-02-28

Address: Apt. 536 6162 Reichel Greens, Port Zackaryside, CT 22682-9804

Phone: +9958384818317

Job: IT Representative

Hobby: Scrapbooking, Hiking, Hunting, Kite flying, Blacksmithing, Video gaming, Foraging

Introduction: My name is Jamar Nader, I am a fine, shiny, colorful, bright, nice, perfect, curious person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.